KISS steht für Kopfgelenk induzierte Symmetrie Störung. Mit dieser Problematik werden vor allem Manualtherapeuten konfrontiert, die mit Babys und Kindern arbeiten. Allerdings kann ein nicht behandeltes Kiss-syndrom im späteren Alter (erneut) sichtbar werden.
Das Syndrom wurde zunehmend bekannt durch Publikationen von Biedermann und Sacher, wobei das Kiss-Syndrom in den 60iger Jahren auch schon von Gutmann beschrieben wurde. Coenen beschreibt das Syndrom unter den Namen TAS, Tonus Asymmetrie Störung und deutet damit schon eher auf die Folgen der Kopfgelenkstörung hin.
Was verbirgt sich hinter dem KISS/TAS-Syndrom?
Bei KISS/TAS handelt sich um eine Bewegungseinschränkung in den Kopfgelenken, also im Bereich Occiput/Atlas und oder Atlas/Axis. Der Ursprung dieser Einschränkung kann schon intrauterin entstanden sein. Es wird aber vermutet, dass vor allem die Kräfte, die während des Geburtsvorgangs auf die Kopf-/Nackenregion einwirken die mechanische Störung verursachen. Allerdings kommt die Einschränkung auch nicht selten nach einer Sektio vor, was aber auch nicht verwunderlich ist, da auch hier erhebliche Kräfte ausgeübt werden.
Den Eltern fällt nach einiger Zeit auf, dass ihr Baby eine „Lieblingsseite“ hat. Gemeint ist, das Baby dreht den Kopf immer in eine Richtung und ungern oder gar nicht auf die andere Seite.
Dem therapeutisch geschulten Auge fält zu dieser auffälligen Kopfrotation vor allem die Seitneige zur Gegenseite (gekoppelte Bewegung der Kopfgelenke!) des Kopfes auf. Diese Seitneigung setzt sich meistens im Rumpf weiter fort, sodass das Baby in einer C-Haltung liegt. Schon 1962 haben Mau und Gabe auf diese Haltungsabweichung hingewiesen; sie sprachen von einer Säuglingsskoliose.
Die einseitige Haltung hat Auswirkungen auf die Kopfform. Die Knochenplatten des Kopfes des Neugeborenen sind noch weich und verformbar. Die Seite auf die das Baby den Kopf ständig ablegt, bekommt mehr Druck und flacht ab. Diese Kopfform entspricht dem Begriff der Plagiocephalie. Er hält die bevorzugte Rotation aufrecht, da der Kopf aus der Mitte spontan auf die flachere Seite rollt.
Bei manchen Babys kommt es regelrecht zu einer Verschiebung im gesamten Kopf, sodass die Asymmetrie des Hinterkopfes auch im Gesicht sichtbar wird.
Es gibt keine Studien aus denen sich ergeben würde, dass die Verformung des Kopfes einen Einfluß auf die Funktionen des Gehirns hat.
Die Behandlung der Kopfform hat einen primär kosmetischen Grund, obwohl zu bedenken ist, dass die Asymmetrie am Schädelknochen im späteren Alter Kieferderformitäten verursachen können.
Wie kann eine Therapie aussehen?
Die Therapie beeinhaltet je nach Ausprägung der Verformung verschiedene Schritte.
In den ersten 3 bis 4 Wochen soll dem Säugling die Möglichkeit gelassen werden, die mechanische Störung dadurch zu lösen, dass er neugierig ist und sich bewegt. Die Eltern sollen über ein unterstützendes Handling aufgeklärt werden. Dazu gehören, das Babybett so hinzustellen, dass das Baby mit der eingeschränkten Seite zum Licht rotiert, das Baby auf der eingeschränkten Seite anzusprechen, sein Gesicht zu streicheln, einseitiges Tragen vermeiden und vor allem auf der Körperseite zu tragen die das Baby veranlasst, den Kopf in die eingeschränkte Richtung zu drehen.
Im Kinderwagen und zum Schlafen kann ein spezielles Kissen verwendet werden (Bsp. Babydorm). Dies ist ein flaches Kissen mit einer Membran in der Mitte. Es verhindert, dass der Hinterkopf Druck bekommt.
Auf keinen Fall sollen die Eltern ihr Neugebores zum Schlafen auf den Bauch legen, so wie es in den 60ern und 70ern empfohlen wurde. Damals wusste man noch nichts vom Zusammenhang zwischen der Bauchschlaflage und dem plötzlichen Kindstot. Wenn die Eltern das Baby im Auge haben, ist die Bauchlage eine gute Position, um die Nackenmuskeln zu trainieren und die motorische Entwicklung zu fördern. Es soll aber in den ersten Wochen keine unbeaufsichtigte Schlafposition sein.
Wenn die Bewegungseinschänkung nach 6 bis 8 Wochen weiterhin besteht oder der Kopf sich rapide abflacht, soll behandelt werden.
Die Behandlung soll da ansetzen wo die Störung liegt, in den Kopfgelenken. Die Kopfform ist ja nur eine Folge der Haltung. Wenn die mechanische Störung behoben wird, kann das Baby den Kopf drehen, es wird spontan seinen Kopf mal nach links und mal nach rechts ablegen und damit den Druck verteilen. Wenn das Baby anfängt länger auf dem Bauch zu liegen und zu spielen, wird der Kopf zunehmend entlastet und die abgeflachte Seite wächst nach. Die Helmtherapie, darüber im nächsten Blog mehr, setzt ebenso auf dieses Prinzip der Entlastung der abgeflachten Seite und des Ausgleichs über das Wachstum.
Die Manuelle Therapie nach Kaltenborn-Evjenth befasst sich in ihrem Konzept sehr genau mit der Mechanik der Kopfgelenke. Sie bietet daher eine gute Technikauswahl, um auch bei kleinen Kindern die mechanische Störungen zu behandeln. Die einseitige Traktion und die Funktionsmassage der kurzen Nackenmuskeln, wie das Gleiten auch nach lateral der Condylen zeigen Erfolg. Das A und O des Erfolgs ist die richtige Diagnose und die Dosierung der Techniken. Die Bewegungen sind klein und der erste Stop des Gewebes ist schnell erreicht. Anderseits reicht auch „Handauflegen“ nicht, wenn eine strukturelle Veränderung erreicht werden soll. Das ist bei Babys nicht anders als bei Erwachsenen. Mancher Bericht über wundersame Wirkung ohne Mobilisation ist vielleicht einer spontanen Verbesserung zuzuschreiben, die vor allem in den ersten Wochen über spontane Bewegungen des Babys auftreten.
Wenn keine Einschränkungen in den Kopfgelenken gefunden werden, muss nach weiteren Ursachen gesucht werden. Eine Verletzung des M. Sternocleidomastoideus während der Geburt, kann ebenso zu einen Schiefhals führen. Ultrashall kann hier weiter aufklären. Weiterhin können mechanische Störungen in ISG oder BWS vorliegen. Diese Regionen sind weitere Schlüsselregionen und sollen manualtherapeutisch untersucht werden
Der Manualtherapeut der Interesse daran hat, kleine Patienten zu behandeln, tut gut daran die Techniken zunächst bei Erwachsenen anzuwenden. Mit zunehmendem Fingerspitzengefühl kann er sich dann an Babys wagen. Wie oben gesagt, liegt den großen Unterschied in der Dosierung und natürlich in den Platzverhältnissen.
Diskutiert wird auch, ob auf Grund der noch fllacheren Condylen die Biomechanik in den Kopfgelenken zum Teil anders abläuft als bei Erwachsenen. Die Angaben dazu in der Literatur sind nicht eindeutig, da es zu wenig Material über normal funktionierende Kopfgelenke bei Babys gibt. Zusätzliche Informationen und Tipps zu den Techniken bekommt Ihr im Kurs „MT bei Kindern“ im Kaltenborn-Evjenth-Konzept.
Techniken am Schädelknochen, vor allem an den Gesichtsknochen können die Mobilisation der Kopfgelenke ergänzen.
Wenn sich eine Bewegungseinschränkung als eine Blockade manifestiert und das Baby trotz Mobilisation nicht über die Mitte hinauskommt, kann eine Manipulation nach Arlen angebracht sein. Die Eltern sollen dann einen Arzt aufsuchen, der diese Manipulationstechniek erlernnt hat. Meistens wird vorher ein RX-Bild gemacht, um Anomalien auszuschließen. Vorsicht vor manipulativen Atlastherapien die mit Rotationen arbeiten! Davon rate ich ab!
In der Praxis beobachte ich oft, dass, obwohl die Einschränkung behoben ist, die Babys ihre Lieblingsseite noch einige Zeit beibehalten. Zum Teil ist dies, wie oben beschrieben, auf die Kopfform zurückzuführen. Es ist aber oft über eine längere Zeit eine muskuläre Dysbalance festzustellen. Wenn das Baby aus der aufrechten Position zur Seite gekippt wird, ist die Antwort der Muskeln links und rechts unterschiedlich. Dieser Unterschied soll behoben werden, da es sonst in der weitere motorischen Entwicklung weiterhin zu Dysbalancen und Asymmetrien kommt.
Es empfiehlt sich, als Manualtherapeut mit Bobath- oder Vojtatherapeuten zusammenzuarbeiten, sodass die Behandlung der KISS-Kinder eine „runde“ Sache wird.
Noch eine kleine persönlichen Anmerkung: Traut euch an die Symptomatik ran, es ist eine sehr befriedigende Arbeit und ehrlich weil die Babys verstellen sich nicht!
Else