Welchen Effekt hat Manuelle Therapie (MT) auf das Autonome Nervensystem (NS)? Dieser hochaktuellen Frage möchte ich heute im Blog nachgehen. Wie ist der aktuelle Stand der Wissenschaft diesbezüglich und welche Wirkmechanismen liegen dem zugrunde?
Es sind insbesondere Patienten mit chronischen Erkrankungen, für die wir besondere physiotherapeutische Konzepte benötigen, um Einfluss auf die vielfältigen Symptome nehmen zu können. Dazu gehören u.a. Low Back Pain, Neck Pain, Arthrofibrose, COPD oder komplexe Syndrome wie Chronisches regionales Schmerzsyndrom, Post Covid bzw. Chronisches Fatigue Syndrom (ME/CFS).
Die Liste der Symptome bei den genannten Erkrankungen ist lang, sie reichen von Gelenk- und Muskelschmerzen, Kopfschmerzen, Regulationsstörungen des Herz- Kreislaufsystems mit posturaler Tachykardie bis hin zu Atembeschwerden, Schwindel und Schlafstörungen. Teilweise berichten die Betroffenen von metabolischen Störungen, Reizung der Schleimhäute, Infektanfälligkeit oder Allergien.
Bei einigen Erkrankungen resultieren die Symptome aus einer Dysregulation des autonomen Nervensystems, teilweise auch des Immunsystems oder greifen gar in weitere Körpersysteme ein.
In den Leitlinien dieser Syndrome werden multimodale Therapiekonzepte unter Berücksichtigung aller Modalitäten empfohlen. Die einzelnen Störungen werden anhand der International Classification of Functioning (ICF) beschrieben und mittels verschiedener therapeutischer Interventionen spezifisch behandelt.
Manualtherapeut:innen sind darin ausgebildet, Symptome und Dysfunktionen zu identifizieren und über den Weg des Clinical Reasoning und die körperliche Untersuchung zu entscheiden, ob und mit welchen Mitteln die Symptomatik verbessert werden kann. Das Therapieprogramm wird daraus entwickelt und gemeinsam mit dem Patienten besprochen.
Eine wissenschaftliche Untersuchung aus dem Jahr 2021 hat das Thema MT & Autonomes Nervensystem aufgegriffen. Konkret geht es im Review um die Effekte von Manueller Therapie. Dabei wird die Wirkung von Manueller Therapie mit anderen Behandlungstechniken verglichen. Außerdem wird ausgewertet in welcher Körperregionen die manualtherapeutische Behandlung durchgeführt wurde.
Anhand spezieller Messmethoden oder „Autonomer Marker“ wurde die Reaktion des Vegetativen Nervensystems auf die Intervention untersucht. Gemessen wurde u.a. Herzratenvariabilität, Herzfrequenz, Blutdruck, Atemfrequenz, Sauerstoffsättigung, Pupillenreaktion, Elektrodermale Aktivität (Hautleitfähigkeit) und Thermoregulation der Haut.
Die manualtherapeutischen Anwendungen umfassten ein breites Spektrum an Weichteiltechniken, Gelenkmobilisation, Manipulation, Myofasziale Release Techniken und Nervenmobilisation.
Folgende Fragestellungen wurden daraufhin beantwortet:
- Gibt es einen generellen Effekt von Manueller Therapie auf das autonome Nervensystem?
Antwort: Eine generelle Wirkung besteht nicht, jedoch konnten bestimmte Funktionen beeinflusst werden, wie Hautaktivitäten und kardiovaskuläre Reaktionen.
- Bestimmt die Technik die Wirkungsweise auf das Autonome Nervensystem?
Antwort: Die spezifische Wirkung ausgewählter Techniken auf autonome Funktionen wurde bestätigt.
Mobilisation steigert beispielsweise die Aktivität des Sympathischen Nervensystems.
Manipulationen und Myofasziale Release Techniken bewirken eine Aktivierung des Parasympathikus, insbesondere im Bereich der oberen Halswirbelsäule und der Lendenwirbelsäule
- Gibt es einen Zusammenhang zwischen der Körperregion, in der die MT Behandlung angewendet wurde und bestimmten Effekten?
Antwort: Im Bereich des Cervikothorakalen Übergangs wurde besonders das Sympathische Nervensystem angesprochen.
- Welche physiologischen Parameter des Autonomen NS wurden durch die manualtherapeutischen Techniken am deutlichsten beeinflusst?
Antwort: Blutdruck, Atemfrequenz und Herzfrequenz. Sie bilden die Grundlage zur Ermittlung der Herzratenvariabilität.
- Gibt es Langzeiteffekte von Manueller Therapie auf das autonome NS?
Antwort: Bislang wurden nur kurzfristige Effekte nach der Anwendung untersucht.
Das Autonome Nervensystem ist eng mit anderen Körpersystemen verbunden, insbesondere der Sympathikus beeinflusst das Immunsystem und das Neuroendokrine System (= hormonbildende Zellen und Organe), außerdem trägt er zur Schmerzmodulation bei. Unabhängig von einer Diagnose und dem dominanten Schmerzmechanismus des jeweiligen Patienten ist die Interaktion aller Systeme zu berücksichtigen.
Im Patientenmanagement sind es spezielle Screeningfragen, die die vegetative Komponente der Beschwerden filtern. Folgende Aspekte sind demnach abzufragen:
- Orthostatische Dysregulation, Posturales Tachykardie Syndrom
- Ausbleibendes/verringertes Schwitzen, verändertes Temperaturempfinden
- Schmerzempfinden: Mechanische/Thermale Allodynie bzw. Hyperalgesie
- Sehstörung (Pupillenreaktion)
- Veränderungen Blase, Darm, Sexualfunktion (u.a. Stuhldrang, nächtliches Wasserlassen, Inkontinenz, erektile Dysfunktion)
- Verwirrtheit, Schwindel, Benommenheit
- Herzklopfen/verlangsamter Puls
Fazit: Manuelle Therapie ist ein wichtiges Instrument in der medizinischen Versorgung von Patient:innen mit komplexen chronischen Gesundheitsstörungen, inklusive vegetativer Beschwerden. Die fachliche Kompetenz ermöglicht einerseits eine fundierte Evaluation der Symptome, sowie die Auswahl und Anwendung manueller Behandlungsmaßnahmen zu deren Linderung. Die Aufklärung der betroffenen Patient:innen zur Symptomentwicklung und Behandlungsoptionen inklusive Selbstmanagement sind ein wesentlicher Bestandteil in der Krankheitsverarbeitung.
Quellen:
Anatomie, Physiologie I care 2015 Thieme
AWMF Leitlinienregister https://www.awmf.org/
Jones, M., Rivett, D. Clinical Reasoning in der Manuellen Therapie. München 2006
Rogan, S., Taemans, J., Clays, P., Clijsen, R., Tal-Akabi, A. (2019). Feasibility and effectiveness of thoracic spine mobilization on sympathetic/parasympathetic balance in a healthy population – a randomized controlled double-blinded pilot study. Archives of Physiotherapy; 9:15
Engel, R., Gonski, P., Beath K., Vemulpad, S. (2016). Medium term effects of including manual therapy in a pulmonary rehabilitation program for chronic obstructive pulmonary disease (COPD): a randomized controlled pilot trial. Journal of Manual & Manipulative Therapy 24.2: 80-89.
International Classification of Functioning, Disability and Health (ICF)
Van den Berg, Frans Hg.(2001) Angewandte Physiologie. Therapie, Training, Tests. Stuttgart 2001
Roura, S., Alvarez, G., Solà, I., Cerritelli, F. (2021) Do manual therapies have a specific autonomic effect? An overview of systematic reviews. PLoS ONE 16(12): e0260642.https://doi. org/10.1371/journal.pone.0260642
Harper, B, Parker P., Steele, M. The efficacy of manual therapy on HRV in those with long-standing neck pain: a systematic review. Scandinavian Journal of Pain. https://doi.org/10.1515/sjpain-2023-0006
Ich bin fasziniert von diesem Artikel zur Manualtherapie. Insbesondere, dass chronischen Erkrankungen behandelt werden können, ist schön zu hören. Ich suche mir einen Manualtherapeut.