Wer kennt sie nicht- Patienten mit chronischen unspezifischen Rückenschmerzen. Dabei ist besonders der funktionelle Status entscheidend, denn nicht immer können bildgebende Verfahren strukturelle Veränderungen aufzeigen und die Klinik wiederspiegeln oder erklären. Besonders die lumbale segmentale Instabilität zeichnet sich durch eine lange Schmerzanamnese aus und durch charakteristische Beschwerdebilder wie das sogenannte Durchbrechgefühl und die Schmerzzunahme bei längeren statischen Positionen.
Bereits 2016 hat Karina Arndt einen Artikel bei MT-TO GO über die Theorie der klinischen Instabilität nach Panjabi verfasst (http://mt-togo.com/fachliches/stabilisierendes-system-der-wirbelsaeule-nach-panjabi/) und die drei Subsysteme: aktive, passive und neurale Kontrolle beschrieben. Auch O´Sullivan beschrieb Patienten mit einer Bewegungskontrolldysfunktion als Subgruppe. Hierbei handelt es sich um Patienten mit unspezifischen mechanischen Rückenschmerzen, die bewegungskontrollabhängig sind, für die Luomajoki H. eine Testbatterie, bestehend aus sechs spezifischen Tests, entwickelt hat. Die einfache Ausführung und Bewertung ermöglichen es, diese auch in einer kurzen Behandlungszeit durchzuführen. Jede Testausführung wird dabei als positiv oder negativ bewertet. Wenn ein Patient die Bewegung nicht korrekt ausführen kann, ist der Test positiv. und ergibt einen Punkt. Umso mehr Punkte auf einem Score von 0-6 erreicht werden, umso unzureichender ist die Bewegungskontrolle. Bei Patienten mit Schmerzen in der Lendenwirbelsäule waren in der Regel drei Tests positiv, bei gesunden Menschen waren keine Tests positiv. Luomajoki et al. konnten 2008 herausfinden, dass bei Patienten mit dem Wert 3 es 7,5 mal wahrscheinlicher ist, dass sie unter Rückenschmerzen leiden, im Gegensatz zu strukturellen Veränderungen, die mit der Magnetresonanztomographie diagnostiziert wurden. Hier lag die die Wahrscheinlichkeit bei 1,0-1,9. Sie gilt als sehr reliabel und zeigt bezüglich der diagnostischen Wertigkeit und klinischen Anwendbarkeit gute Ergebnisse. Die diskriminative Validität zeigt nur eine limitierende Evidenz. Eine Übersicht zur Evidenz wurde in einer systematischen Literaturübersicht von R. Petzold 2016 evaluiert.
Die Testbatterie wird unterschieden in Flexionskontrolltests, Extensionskontrolltests, einen Kniebeugetest und einen Test im Einbeinstand. Untersucht wird bei der Bewegungskontrolle die neurale Kontrolle nach Panjabi, denn eine intakte motorische Kontrolle zeichnet sich aus durch die korrekte Funktionalität einzelner Muskeln, dem Zusammenspiel, dem Timing und der Rekrutierung, der Koordination und Propriozeption. Diese Bewegungskontrolle geht aufgrund von chronischen Schmerzen verloren. Eine wichtige Rolle spielt dabei der sensorische Kortex mit dem Homunkulus. Zwar ist der Rücken nur durch ein kleines Gebiet im Homunkulus repräsentiert, jedoch verschiebt sich diese Repräsentation durch chronisch anhaltende Schmerzen. Areale sind nicht mehr klar abgrenzbar, was mit der Zweipunktdiskrimination (ZPD) korreliert und sich durch diese untersuchen lässt. Eine Studie von Luomajoki et al. 2011 zeigt, dass gesunde Menschen durchschnittlich eine Diskrimination von 44mm zeigen, während Patienten mit chronischen Rückenschmerzen 62 mm aufweisen. Dies zeigt, dass die Körperwahrnehmung vermindert ist. Diese veränderte Wahrnehmung korreliert wiederum mit einer veränderten motorischen Kontrolle über die Position des Rückens (Luomajoki 2012).
Die Testbatterie setzt sich aus den sechs unten genannten Tests zusammen. Die Lendenwirbelsäule soll bei allen Tests neutral gehalten werden!
Flexionskontrolltests:
- Kellnerbeuge (Flexion im Hüftgelenk)
- Rocking (Gewichtsverlagerung im Vierfüßler nach hinten)
- Knie-Extension im Sitzen
Extensionskontrolltests:
- Beckenaufrichtung (Extension Hüftgelenke und Flexion LWS ohne Knie-Flexion)
- Rocking (Gewichtsverlagerung im Vierfüßler nach vorne)
Kniebeugetest (Knie-Flexion in Bauchlage)
Einbeinstand-Test (Spurbreite= 1/3 des Trochanterabstands, Winkelmesser wird im 90°-Winkel am Umbilicus angelegt und die seitliche Verschiebung im Einbeinstand gemessen (Norm: 8 cm, ab 2 cm Seitendifferenz positiv)
Die Testbatterie für die Bewegungskontrolle lässt sich ebenso gut in Form von Übungen in die Behandlung integrieren. Wichtig dabei ist, die veränderte bzw. mangelhafte Bewegungskontrollrichtung zu erkennen und die Übungen entsprechend auszuwählen. Erste Studienergebnisse zeigen dadurch eine Verbesserung der Bewegungskontrolle von 40-60% sowie eine Verbesserung der daily life activities und der Bewegungsfunktion. Bisher fehlen allerdings weitere Studien mit einer Kontrollgruppe (Luomajoki 2012). Das Zusammenspiel der aktiven, passiven und neuralen Subsysteme ist für die hohen Belastungen, denen die Wirbelsäule beispielsweise im Sport ausgesetzt ist, unerlässlich und wird häufig vernachlässigt. Dieses Prozedere wird jedoch Anforderungen in unterschiedlichen Sportarten gerecht und ermöglicht eine optimale Beurteilung der Bewegungskontrolle. Die Beurteilung der Belastbarkeit sollte hingegen mit dem Return to activity-Test von Keller et al. 2018 erfolgen (Möller 2019).
Das Forscherteam um Luomajoki untersuchte in einer weiteren Studie fettige Infiltrationen der Musculi multifidi bei Patienten mit akuten und chronischen unspezifischen Rückenschmerzen. Diese Verfettung zeigten insgesamt 85% der Patienten, vor allem die mit chronischen Rückenschmerzen. Diese fettige Infiltration ist nicht reversibel. Interessanterweise zeigten die Mm.multifidi vor allem bei der lumbalen Flexion die höchste Aktivität, so dass es bei einer Atrophie zu einem aktiven Stabilitätsverlust in Flexion kommt und mit einer Steifigkeit der passiven Strukturen kompensiert wird. Entgegen der Erwartungen des Forschungsteams war die lumbale Bewegungskontrolle nicht von der Verfettung der Mm.multifidi beeinträchtigt im Gegensatz zur lumbalen Flexion, die reduziert ist. Die Mm.multifidi scheinen demnach mehr an der Stabilisierung der Wirbelsäule in Flexion beteiligt zu sein als bei der Haltungskontrolle (Hildebrandt et al. 2017).
Evidenz besteht bisher ebenso über die verminderte Rekrutierung des Musculus transversus abdominis bei Rückenschmerzpatienten (Keller 2007). Zurecht wird allerdings diskutiert, ob sich dieser Muskel überhaupt isoliert ansteuern lässt. Der M.transversus abdominis zeigt nach Boetcher et al. 2008 weder in der Untersuchung mittels Pressure Biofeedback Unit (PBU) zuverlässige Ergebnisse (kein Zusammenhang zwischen Dickenzunahme des Muskels und Druckabnahme des PBU) noch konnte in neueren Studien ein Rekrutierungsunterschied des M.transversus abdominis bei Rückenschmerzpatienten im Gegensatz zu gesunden Patienten nachgewiesen werden (Mannion et al. 2008). Die spezifische Kräftigung der Tiefenstabilisatoren (Mm.multifidus, M.transversus abdominis) zeigt allerdings klinisch eine Schmerzlinderung (Betz 2019). Das sollte auch ein wichtiger Aspekt sein und in der Behandlung berücksichtigt werden!
Literatur:
Betz, Michael. Die lumbale Diskushernie bei Sportlern. Sportphysio 2019; 7:159-165.
Boettcher N, Huber M, Messner T. Lässt sich die Aktivität des M.Transversus abdominis selektiv messen. Man Ther 2008; 12:72-75.
Hildebrandt M, Fankhauser G, Meichtry A, Luomajoki H. Correlation between lumbar dysfunction and fat infiltration in lumbar multifidus muscles in patients with low back pain. BMC Musculoskelet Disord 2017;18:12.
Keller S. Assessment: Abdominal-Hollowing-Test. Indirekt die Transversus Aktivität messen. physiopraxis 2007; 5(10): 36-37.
Luomajoki H. Sechs Richtige: Mit der Testbatterie die lumbale Bewegungskontrolle untersuchen. Man Ther 2012; 16:220-225.
Luomajoki H, Moseley G. Tactile acuity and lumbopelvic motor control in patients with back pain and healthy controls. Br J Sports Med 2011;45:437-40.
Luomajoki H, Kool J, de Bruin E, Airaksinen O. Movement control tests of the low back; evaluation of the difference between patients with low back pain and healthy controls. BMC Musculoskelet Disord 2008; 9:170.
Luomajoki H, Kool J, de Bruin E, Airaksinen O. Reliability of movement control tests in the lumbar spine. BMC Musculoskelet Disord 2007; 80:90.
Luomajoki H. Bewegungskontrolldysfunktion mit iatrogener Katastrophisierung bei unspezifischen Rückenschmerzen. Eine evidenzbasierte Fallstudie. PT Zeitschr für Physiother 2013; 65 (9):16-26.
Mannion A, Pulkovski N, Gubler D,G orelick M, O’Riordan D, Loupas T, Schenk P, Gerber H, Sprott H. Muscle thickness changes during abdominal hollowing: an assessment of between-day measurement error in controls and patients with chronic low back pain. Eur spine J 2008;17:494-501.
Möller D. Entscheidungskriterien für die Reha bei lumbalen Rückenschmerzen. Sportphysio 2019;7:166-173.
Petzold R, Thieme H. Aktuelle Evidenz der Reliabilität und Validität klinischer Tests zur Evaluation der Bewegungskontrolle bei lumbalen Rückenschmerzen. Systematische Literaturübersicht. manuelletherapie 2016; 20(04): 179-189.
Hallo, vielen Dank für den sehr fachlichen Artikel, der den Sachverhalt prima erklärt! Lassen sich Rückenschmerzen nach dem Aufstehen auch auf eine Problematik mit der LWS zurückführen? Viele Grüsse
Vielen Dank für die positive Rückmeldung. Rückenschmerzen können natürlich viele Ursachen haben, aber eine gezielte Befunderhebung und eine Testung der lumbalen Bewegungskontrolle wäre sicherlich sinnvoll. Schmerzen nach langen statischen Positionen können u.a. durch solch ein Defizit hervorgerufen werden.