Am 03. und 04. Juni 2016 fand im Rahmen des Nice Shoulder Course in Nizza zum erste Mal für Physiotherapeuten der Nice Shoulder Course Rehab statt. Aus 17 verschiedenen Nationen kamen Teilnehmer zusammen, um aktuelle Therapiekonzepte und Behandlungstechniken der Schulter zu diskutieren. Neben interessanten Vorträgen von international bekannten Autoren wie Anju Jaggi aus Großbritanien, Ingrid Hultheneim aus Göteborg und Ann Cools aus Belgien, wurden in Workshops Assessments und Behandlungsansätze demonstriert und besprochen. In einer `Live OP` wurde ein Coracoidtransfer nach Latarjet zur Schulterstabilisierung durchgeführt. Die offene Operationstechnik nach Latarjet sieht einen Versatz der Processus Coracoideus vor und wird eingesetzt, wenn Luxationen des Glenohumeralgelenks (GH) mit einem Defekt des Glenoidrandes einher gehen und deshalb die anteriore Instabilität durch eine Rekonstruktion des Weichteilgewebes und des Labums nicht behoben werden kann.
Neben dem großen Thema der Biomechanik der Scapula und damit verbundenen Scapula-Dyskinesien, die in den nächsten Blog-Beiträgen betrachtet werden, standen die Sessions an Tag 1 unter den Themen `Assessment´ und Glenohumeral joint (GHJ) instability und an Tag 2 unter `Rotator cuff` und `Arthroplasty and stiffness`. In der Session ´Assessment` referierte die Physiotherapeutin Anju Jaggi, Präsidentin der EUSSER (Eurpean Society of Elbow&Shoulder Rehabilitätion), zum Thema Assessments der Rotatorenmanchette. Während die Schädigung des Gewebes häufig nicht mit den Symptomen korreliert, lässt sich ebenfalls die Validität der Bildgebung und die Aussagekraft der Impingement-Tests diskutieren (Unruh et al. 2014). Diese zeigen aktuell zwar eine hohe Sensitivität, jedoch keine besonders hohe Spezifität. Beispielsweise werden beim Empty-can-Test nicht nur der M.supraspinatus getestet, der nach EMG-Messungen bei allen Bewegungen im Schultergelenk aktiv ist, sondern ebenfalls der M. deltoideus pars acromialis, der M. biceps brachii caput longum und der M.infraspinatus. Ihr persönliches Fazit war `Tell me where it hurts, not why`. Das bedeutet, von traditionellen Tests abzuweichen, die motorische Kontrolle zu beurteilen und nicht nur die Biomechanik zu betrachten, sondern die physische Untersuchung der Bildgebung vorzuziehen und die Funktion der Rotatorenmanchette sowohl lokal als auch in geschlossener und offener Kette zu untersuchen.
Ingrid Hulteneim, Chair of Scientific Commitee (EUSSER) und Dozentin an der Universität von Göteborg, nannte die große Diskrepanz zwischen Diagnostik und gewählter Rehabilitation als Hauptursache für ein nicht optimales klinisches outcome (Miller-Spoto und Gombatto 2014). Mit einer limitierten Anzahl an Physiotherapeuten aus Europa und Australien wurde während des International Congress of Shoulder and Elbow Therapists (ICSET) in Korea eine ´best-practice`-guideline für die Behandlung bei Schulter-Schmerzen entworfen, die unter folgendem link einzusehen ist:
Im Vordergrund stehen dabei in der frühfunktionellen Phase schmerzfreie, aktive Übungen, die mit einer Aktivierung des Motorcortex einhergehen sollten. Aktuelle Studien zeigen eine verbesserte Bewegungssteuerung durch gezielte funktionelle Bewegungen mit einer distalen Komponente (Roy et al. 2009).
Der Treatment-Algorithmus bei Patienten mit Läsionen der Rotatorenmanchette (RM) wurde von Yasmaine Karrel vorgestellt. Dabei werden die Patienten in 3 Gruppen unterteilt. Gruppe 1 beinhaltet alle chronischen Patienten mit einer irreparablen RM-Ruptur, die konservativ versorgt werden. Gruppe 2 beinhaltet alle Patienten, die eine akute RM-Ruptur aufweisen und operativ versorgt werden. Gruppe 3 beinhaltet Patienten mit einer Partialläsion, die eine konservative Versorgung erhalten. Ann Cools widmete sich in ihrem Vortrag unter dem Motto `Treat the function, not the structure` der Behandlung von Patienten aus Gruppe 1, bei denen die Erweiterung des Bewegungsausmaßes, die Vermeidung weiterer GH-Degeneration und vor allem das Training des M.deltoideus bei fehlender Funktion der RM im Vordergrund steht. Therapieansätze sollten Übungen in der geschlossenen oder halb geschlossen Kette sein sowie Übungen für den M.deltoideus und für die scapula-Stabilität. Besonders die Kraft des anterioren Anteils des M.deltoideus ist für die Erweiterung des ROM von Bedeutung, denn sowohl der M. Supraspinatus als auch der M. deltoideus sind individuell in der Lage die glenohumerale Flexion zu initiieren und zu halten (Levy et al. 2008). Hierbei stehen simple, schmerzfreie, funktionelle Übungen zur Verbesserung der Propriozeption und der neuromuskulären Kontrolle über denen der Kräftigung. Diese sind mit der Schwerkraft auszuführen und erfolgen in der geschlossenen Kette bzw. in der Endposition. Eine Studie von Kuhn et al. 2013 zeigte bei diesem Behandlungsansatz zu 75% Erfolge.
Literatur:
Kuhn JE1, Dunn WR, Sanders R, An Q, Baumgarten KM, Bishop JY, Brophy RH, Carey JL, Holloway BG, Jones GL, Ma CB, Marx RG, McCarty EC, Poddar SK, Smith MV, Spencer EE, Vidal AF, Wolf BR, Wright RW; MOON Shoulder Group, Effectiveness of physical therapy in treating atraumatic full-thickness rotator cuff tears: a multicenter prospective cohort study. J Shoulder Elbow Surg. 2013 Oct;22(10):1371-9.
Levy O, Mullett H, Roberts S, Copeland S, The role of anterior deltoid reeducation in patients with massive irreparable degenerative rotator cuff tears. J Shoulder Elbow Surg. 2008;17(6):863-70.
Miller-Spoto M, Gombatto SP, Diagnostic labels assigned to patients with orthopedic conditions and the influence of the label on selection of interventions: a qualitative study of orthopaedic clinical specialists. Phys Ther. 2014 Jun;94(6):776-91.
Roy JS, Moffet H, McFadyen BJ, Lirette R, Impact of movement training on upper limb motor strategies in persons with shoulder impingement syndrome. Sports Med Arthrosc Rehabil Ther Technol. 2009 May 17;1(1):8
Unruh KP, Kuhn JE, Sanders R, An Q, Baumgarten KM, Bishop JY, Brophy RH, Carey JL, Holloway BG, Jones GL, Ma BC, Marx RG, McCarty EC, Poddar SK, Smith MV, Spencer EE, Vidal AF, Wolf BR, Wright RW, Dunn WR, The duration of symptoms does not correlate with rotator cuff tear severity or other patient-related features: a cross-sectional study of patients with atraumatic, full-thickness rotator cuff tears. J Shoulder Elbow Surg. 2014 Jul;23(7):1052-8.