Aufgrund der vielfältigen Einflussfaktoren ist in der Untersuchung und Behandlung eine sorgfältige Analyse und Beurteilung der identifizierten Symptome und Zeichen notwendig, um die richtigen Entscheidungen mit Hilfe des Clinical Reasoning-Prozesses treffen zu können. Die Befunde/Daten aus der Anamnese bilden die Grundlage für die Planung der physischen Untersuchung. Dabei gibt die klinische Präsentation vor, ob ein standardisiertes Vorgehen bei der Wahl der Untersuchungsmittel sinnvoll ist oder Modifikationen vorgenommen werden müssen (Pfund/Zahnd 2001).
Subjektive Untersuchung
Die im folgenden beschriebenen Untersuchungs- und Behandlungsschritte basieren auf einer peripher nozizeptiven Präsentation einer Patientin mit unspezifischen Nackenschmerzen.
Frau Meier ist 40 Jahre alt, ist Einzelhandelskauffrau und arbeitet in einem Schuhgeschäft. Als Hauptproblem gibt Sie Schmerzen im Nackenbereich mit Bewegungseinschränkungen besonders beim Schulterblick an. Die Schmerzen (S1) beschreibt Frau Meier als ziehend-stechend VAS 6/10 lokal im Nackenbereich, die immer noch einige Sekunden nachklingen, wenn Sie den Kopf wieder in die Neutralposition bewegt hat. Die Beschwerden begannen vor 5 Tagen, als Sie bei einer schnellen Drehung des Kopfes nach rechts einen einschießenden Schmerz verspürte. Es wurden zu diesem Zeitpunkt keine Warnhinweise auf eine ernsthafte Pathologie identifiziert.
Physische Untersuchung
Inspektion
Die Analyse der Kopf- und Nackenposition im Verhältnis zum Rumpf und deren Eingliederung in die Gesamtstatik in den verschiedenen Ebenen, lässt erste Rückschlüsse auf die Belastungssituation des oberen Quadranten zu. Bei Frau Meier zeigt sich bei der Betrachtung aus der Saggitalebene, im Bereich der mittleren BWS eine leicht verstärkte Kyphose, die in die untere HWS weiterläuft. Dadurch steht der Kopf in einer leichten Ventralposition. Weitere Befunde in Bezug auf die oben genannten Parameter wurden nicht identifiziert.
Aktive Beweglichkeit (AROM)
Aus der subjektiven Untersuchung konnten einige Daten gesammelt werden, die die HWS als symptomatischen Bereich identifizieren. Deshalb folgt im nächsten Schritt die Beurteilung der Qualität und Quantität der aktiven Beweglichkeit der HWS.
Piva und Kollegen untersuchten die Interrater – Reliabilität von aktiven Bewegungen der HWS bei Patienten mit unspezifischen Nackenschmerzen mittels eines Inklinometers. Sie beurteilten unter anderem die Zuverlässigkeit von aktiven HWS-Bewegungen bei der Symptomreproduktion von Patienten mit Schmerzen im Bereich des Nackens sowie der BWS. Dabei zeigten sich bei einem Großteil der Bewegungen moderate bis gute Ergebnisse (Piva et al. 2006). Pool et al. (2004) gaben am Ende der aktiven Bewegung einen sanften Überdruck, um das passive Ausmaß, den Gewebewiderstand und evtl. auftretende Schmerzen zu beurteilen. Sie erzielten in Ihrer Studie ähnliche Ergebnisse (Pool et al. 2004). Bei der Untersuchung der aktiven Beweglichkeit von Frau Meier ergaben sich folgende Befunde:
Extension 40° (S1) mit einer Ausweichbewegung (AB) in Seitneigung li. (SNL)
Seitneigung re. (SNR) 20° S1 mit wenig Bewegung Kopf auf Nacken
Rotation re. (ROTR) 55° S1
Flexion (FLEX) 70°,
SNL 40°
Rotation li. (ROTL) 75°
Die Symptome (S1) von Frau Meier kann durch die aktive Bewegungsprüfung reproduziert werden. Es ist also ein Zusammenhang zwischen den Beschwerden von Frau Meier und den Funktionsstörungen im Nackenbereich erkennbar. Aufgrund der aktuell irritierbaren Situation wird auf den passiven Überdruck am Ende der aktiven Bewegung verzichtet.
Im nächsten Schritt soll die segmentale Beweglichkeit beurteilt werden.
Passive segmental rotatorische Bewegung (PSRB)
Die PSRB dienen sowohl der Identifikation der/des symptomatischen Segmente/s als auch der Beurteilung der Funktion (hypo-, normal-, hypermobil). Dazu muss das Ausmaß, der Widerstand, das Endgefühl der Bewegung und die möglichen Symptome des Patienten evaluiert werden.
Ein einfacher, aber sehr informativer Test zur Beurteilung der Seitneigung der unteren HWS kann in Rückenlage ausgeführt werden (siehe Bild/Text).
Schaut man in die Wissenschaft gibt es eine gute Evidenz dafür, dass die Anwendung der PSRB im klinischen Alltag, zur Beurteilung der Symptome und Zeichen von Patienten mit unspezifischen Nackenschmerzen, rechtfertigt (de las Penas 2005, Humphrey 2004, Manning 2012, Piva 2005, Pool 2004).
Im Fall von Frau Meier ist das Segment C2 rechts hypomobil und Ihre beklagten Schmerzen (S1) lassen sich vor dem ersten Widerstand provozieren. Auch das Segment C3 auf der rechten und C7 auf der linken Seite ist hypomobil, aber nicht schmerzhaft.
Passive segmental translatorische Bewegung (PSTB)
Nachdem das symptomatische Segment identifiziert und dessen Funktion beurteilt wurde, kann mit Hilfe der PSTB versucht werden, dass Gelenkspiel auf Bandscheibenebene zu testen, um die translatorische Beweglichkeit in den einzelnen Segmenten zu evaluieren. Dazu bewegt der Therapeut die HWS in den einzelnen Segmenten parallel im Bandscheibenverlauf in ventral-dorsale Richtung. Die Segmente C2, C3 sowie C7-TH1 sind bei Frau Meier hypomobil und C5 erscheint leicht hypermobil.
Palpation
Die Palpation der einzelnen Segmente rundet die Untersuchung zu diesem Zeitpunkt ab. Es sind Gewebeveränderungen als Spannungsänderungen der Muskulatur im oberen Bereich der HWS rechts sowie leichte Aufquellungen über den Facettengelenken C2, C3 rechts tastbar. Weiterhin ist dieser Bereich druckempfindlich. Ein Test mit dem Algometer auf Höhe C2 rechts zeigt eine Druckschmerzschwelle von 2,5 kg auf. Im Gegensatz dazu ist C2 links erst bei 7 kg schmerzhaft.
Eine durch den Clinical Reasoning Prozess gesteuerte Wahl der Untersuchungsmittel vereinfacht das Sammeln aktuell relevanter Informationen und gibt dem Therapeuten mehr Sicherheit in der Beurteilung seiner Befunde. Dadurch können aufgestellte Hypothesen z.B. in Bezug auf die symptomatische Bewegungsrichtung, dem symptomatischen Segment und deren Funktion effizienter verifiziert oder gegebenenfalls falsifiziert werden.
Im Fall von Frau Meier konnten genug Informationen (Symptome/Zeichen) zum aktuellen Zustand der Patientin gesammelt werden, um eine Arbeitshypothese zu stellen:
Die symptomatischen Bewegungsrichtung ist hauptsächlich die ROTR, SNR in EXT der HWS. Dabei ist vor allem das Segment C2 aufgrund einer schmerzdominanten Verschlußproblematik auf der rechten Seite hypomobil.
Probebehandlung
Im Anschluß erfolgt eine Probebehandlung, um die Arbeitshypothese zu überprüfen.
Das kurzfristige Behandlungsziel ist im symptomatischen Bereich Schmerzen zu reduzieren, den Stoffwechsel anzuregen, die umgebende Muskulatur zu entspannen und die Beweglichkeit zu verbessern.
Der Therapeut wählt eine Gleittechnik für das Facettengelenk C2 auf der rechten Seite in die schmerzfreie Richtung (FLEX, SNL, ROTL) in Stufe 2 (Kaltenborn/Evjenth) für 5 Minuten (siehe Bild/Text). Danach werden die wichtigsten Wiederbefundszeichen aus der subjektiven sowie der physischen Untersuchung als Reassessment wieder getestet. Einige Befundparameter, wie die Druckschmerzschwelle und die ROTR, haben sich bei Frau Meier durch die Probebehandlung verbessert, so dass folgende Aktualitätsdiagnose gestellt werden kann:
Aktualitätsdiagnose
Frau Meier hat eine schmerzhaft eingeschränkte Beweglichkeit im Bereich der unteren HWS, genauer auf Höhe C2, hauptsächlich in ROTR mit Schwierigkeiten beim Schulterblick im Auto.
Eigenübung
Um die Eigenverantwortung des Patienten zu stärken und die Beschwerden nachhaltig zu beeinflussen ist die Instruktion von Eigenübungen ein wichtiger Faktor. Dazu bekommt Sie eine kurze Aufklärung zum Reassessment und als Hausaufgabe die adäquate Eigenübung zur Probebehandlung. Diese soll Sie bis zur nächsten Sitzung täglich aller 3 Stunden jeweils 3×1 Minute durchführen.
Im Behandlungsverlauf werden weitere Befunde gesammelt und mit Hilfe des Clinical Reasoning Prozesses stetig an die aktuelle Situation des Patienten angepasst. Lassen die Schmerzen nach und die klinische Präsentation wird mehr Widerstandsdominant, kann die Bewegung mehr und mehr in die eingeschränkte und (noch) schmerzhafte Richtung geführt werden. Mit steigender Beanspruchbarkeit wird auch die Dosierung angepasst und aus dem widerstandsfreien Bereich (Kaltenborn/Evjenth Stufe 2) in den Widerstand bewegt (Kaltenborn/Evjenth Stufe 3).
Aus den identifizierten Befunden und der externen Evidenz erfolgt die Planung der weiteren Behandlungsmaßnahmen. Kull untersuchte in einem systematischen Review die Effektivität von Übungen bei unspezifischen Nackenschmerzen. Die Ergebnisse zeigten, dass Dehnungen sowie Krafttraining oder die Kombination aus beiden Interventionen kurz- bzw auch langfristige Verbesserungen in Bezug auf Schmerz und Funktion haben (Kull 2018). Neben den Mobilisationen finden Dehnungs- und Kräftigungsübungen ihren Einsatz. Diese zielen auf den symptomatischen sowie auf asymptomatische Bereich(e) ab.
Die Integration weiterer Eigenübungen komplettieren den Behandlungsplan.
Ronny Petzold
Literatur:
de-las-Penas CF, Downey C, Miangolarra-Page JC.Validity OF THE LATERAL GLIDING TEST AS TOOL FOR THE DIAGNOSIS OF INTERVERTEBRAL JOINT DYSFUNCTION IN THE LOWER CERVICAL SPINE.Journal of Manipulative and Physiological Therapeutics. 2005; 28: 610-616.
Hidalgo B et al.The efficacy of manual therapy and exercise for treating non-specific neck pain: A systematic review. Journal of Back and Musculoskeletal Rehabilitation. 2017; 30:1149–1169.
Humphreys BK, Delahaye M, Peterson CK. An investigation into the validity of cervical spine motion palpation using subjects with congenital block vertebrae as a ‚gold standard.BMC Musculoskeletal Disorders 2004, 5:19 1-6.
Kaltenborn F, Evjenth O. Manuelle Therapie nach Kaltenborn – Untersuchung und Behandlung. 4. Auflage.Oslo: Norlis Bokhandel 2004.
Kull P. Effektivität von Übungsinterventionen bei der Behandlung unspezifischer Nackenschmerzen.manuelletherapie. 2018; 22: 86-94.
Manning DM, Gregory DS, Sizer PS, Brisme JM Realiability of a seated three-dimensional passive intervertebral motion test for mobility, end-feel, and pain provocation in patients with cervicalgia. Journal of Manual and Manipulative Therapy 2012; 20:135-141.
Pfund R, Zahnd F. Leitsymptom Schmerz. Stuttgart: Georg Thieme Verlag 2001.