Hilft Barfußlaufen gegen degenerative Prozesse?
Seit ca. 40 000 Jahren trägt der Mensch schuhähnliches Material als Schutz für die Füße. Nun hat der Evolutionsbiologe Daniel E. Lieberman, Professor für Biowissenschaften an der Universität Harvard die Mechanismen genauer beleuchtet. Schon seine Veröffentlichung aus dem Jahr 2010: „Food strike patterns and collision force in habituelle barefoot versus shod runners“, sorgte für jede Menge Aufmerksamkeit. In der Zwischenzeit ist er selber zum passionierten Barfußläufer geworden und hat sich nach eigenen Aussagen eine beachtliche, schwielige Fußsohle antrainiert. Diese schützende Schicht, die sich über seiner Sohle gebildet hat, besteht aus Keratin, welches sich mit einem anderen Protein verbindet und keinerlei Viskosität aufweist. So können externe Reize, trotz dicker Schwielen ohne Informationsverlust direkt in tiefere Hautschichten weitergeleitet werden. Lieberman und sein Team untersuchten diese Besonderheit der Sohlenbeschaffenheit (ob Schwielen oder keine Verdickungen) in Bezug auf Sensibilität, bzw. Empfindlichkeit der Fußsohle, gegenüber mechanischen Reizen wie Vibrationen. Sie konnten bei 81 Menschen aus Westkenia, welche regelmäßig Barfuß liefen, aber auch Schuhe nutzten und bei 22 Personen aus Boston, welche keine Schwielen aufwiesen. keine unterschiede in Bezug veränderte Sensibilität feststellen. Trifft die Sohle in gepolsterten Schuhen auf den Boden auf, verlangsamt sich die Geschwindigkeit mit welcher der Körper auf den Boden auftrifft. Der Aufprall wird angenehmer empfunden, doch die Kraft bleibt gleich. „Die Energie Belastung für Ihr Bein ist in etwa dreimal so groß, wie wenn sie Barfuß wären“, sagt Lieberman. Er leitet daraus folgenden Rückschluss ab; seit dem Zweiten Weltkrieg kam es aus unerfindlichen Gründen zu einer Verdopplung der diagnostizierten Gonarthrosen bei älteren Menschen (Gesamtprävalenz in Deutschland: 23,8% ). In etwa ab dieser Zeit, ermöglichte es der Fortschritt in der Material-Forschung, immer ausgefeiltere Sohlenpolsterungen einzusetzen, was unmittelbar Rückschlüsse auf eine Verbindung dieser beiden Faktoren zulässt. Durch die andauernde Dämpfung der mechanischen Reize, könnten ebenso zentral-, sowie periphere Neuronen Netze instabiler werden, welche die Balance beeinträchtigen und eine Sturzneigung begünstigen. Es gibt bis jetzt allerdings keine soliden wissenschaftlichen Beweise für solch Ursächliche Zusammenhänge, in Bezug auf Degenerationsprozesse für Knie, Hüfte, oder Nervenfasern, da es sich als Schwierig gestalten dürfte, die Auswirkungen des Tragens von Schuhen in einem Zeitraum von mehr als 70 Jahren, für abermillionen Schritte, beim Menschen zu Untersuchen. Lieberman vertritt die Meinung: “Wenn wir dem Gehirn der Menschen mehr Informationen geben könnten, könnte dies ihnen helfen“. Er verweist auf diverse Sportarten, bei der die Barfußsituation unerlässlich ist, wie bei Turnern und Kampfsportarten.
Steigende Belastung und vermehrte Reizwahrnehmung, führt auch zur Anpassung der Knochenstrukturen. Ein weit verzweigtes Netzwerk feinster Kanälchen und Kavernen, welche mit Flüssigkeit gefüllt sind, entdeckten unlängst Alexander van Tol und sein Team, vom Max-Planck-Institut in Potsdam. Dieses Lakuno-kanalikuläre Netzwerk (LCN) füllt den gesamten Knochen aus und ist von drucksensieblen Osteozyten besiedelt. Der wechselnde Flüssigkeitsstrom führt zu Druckveränderungen an den Osteozyten und damit zu einer mechanischen Stimulation. „Diese Mechanosensoren ermöglichen es, dass Knochen dort angebaut wird wo er mechanisch benötigt wird und anderswo abgebaut wird“, sagt Richard Weinkamer. Laut Alexander van Tol, ist neben den mechanischen Reizen, die LCN Architektur der Schlüsselfaktor für die Knochenanpassung. Die Qualität der Knochenanpassung hängt allerdings von der ursprünglichen Knochenarchitektur ab. So lasse sich auch im Versuch an Mäusen welche besonders wenig Knochen anreicherten, ein verlangsamter Flüssigkeitsfluß nachweisen. Fraglich ist ob die Labormaus genug Raum für Aktivität zur Verfügung hatte und diesen ebenso nutzte wie die Mäuse mit einem verdichteten LCN? Vermutlich lässt sich diese Knochenarchitektur durch gesteigerte sportliche Aktivitäten in jugendlichem Alter mitgestalten und wird von genetisch festgelegten Faktoren beeinflusst. Ob eine frühe Einflussnahme auf den Kindlichen Fuß, durch Fußbeet und dicke Sohlen sich negativ auf die Ausbildung des LCN auswirkt ist dahingestellt. Jedenfalls erscheint jede mechanische Dämpfung der Rezeptoren, die Anatomie zu beeinflussen. Vergleichbar mit einem Wattebausch im Ohreingang, welcher das auftreffen der Wellen an den feinsten Sinneszellen, den Härchen reduziert und damit die tatsächliche Lautstärke vermindert.
„Mit den heutigen, gepolsterten Schuhen erhöhen wir zwar den Komfort, allerdings auf kosten der Funktionalität“, bestätigt auch der unabhängige Schuhwissenschaftler Thorsten Sterling, welcher Hochleistungsschuhe entwirft. Kristiaan D`Àoût, Dozent für muskuloskelettale Biologie an der Universität Liverpool (England) führt zu diesem Thema eigene Studien durch. Er ließ Probanden sechs Monate lang Barfußschuhe tragen und obwohl es anfängliche Probleme mit dieser Umstellung gab, bevorzugten es nach Abschluss der Untersuchung, einige Teilnehmer auch weiterhin. Es gibt also einen positiven Gewöhnungseffekt, dessen langfristige Auswirkungen für uns zurzeit nur zu vermuten sind. Kristiaan D`Àoût ist der Meinung, dass Füße auf Grund Ihres anatomischen Aufbaues, die am wenigsten verstandene, Funktionelle Einheit darstellt und Schuhe diesbezüglich sehr invasiv sein können. Propriozeption findet immer im Körper statt und ist an andere Sinne gekoppelt, keine Einlage der Welt kann eine Propriozeptive-Leistung ausführen, schon gar nicht, wenn sie aus Silikonen oder Schaumstoffen besteht.
Geht man davon aus, dass der Mensch sich Evolutionsbiologisch seit über sieben Millionen Jahren entwickelt und seiner Umgebung anpasst, ist der Fuß an sich kaum noch zu verbessern. Manche Menschen vergessen einfach das der Schlüssel für Schmerzfreiheit und Bewegungsfreude im einfachen liegt und es ist unsere Aufgabe, die Patienten dahingehend aufzuklären und zu unterstützen.
Quelle:
https://www.nature.com/articles/nature08723
https://www.pnas.org/content/117/51/32251
Gesamtprävalenz: www.rki.de/geda, 2012