Als Physiotherapeutin in eigener Sache habe ich mich mit den Leitlinien für die Akutversorgung bei Bandscheibenvorfall mit radikulärer Symptomatik auseinander gesetzt.
Die Leitlinien sind ganz frisch überarbeitet, zum Juli 2021 publiziert und gelten für die nächste fünf Jahre. Sie beruhen auf den Expertenmeinungen aus unterschiedlichen Fachbereichen, welche mit die Diagnose und Behandlung von BS Vorfällen zu tun haben. Die Experten werden zu diagnostischen Mitteln und Behandlungsmethoden befragt, die aus Studien gesammelt und nach strengen Kriterien gesichtet wurden. Nur bei hoher Übereinstimmung werden diagnostische Mittel und Behandlungsmethoden in die Leitlinien aufgenommen.
Die diagnostischen Möglichkeiten sind hervorragend geeignet, um einen frischen Bandscheibenvorfall aufzudecken.
Zunächst sollen red flags abgefragt werden, darüber wurde in einem früheren Blogbeitrag schon ausführlich geschrieben
Aus eigener Erfahrung kann ich bestätigen, dass der Schmerz im zugehörigen Dermatom sehr präsent ist. Dadurch kann eine erste Zuordnung erfolgen, ob eher eine Nervenwurzel aus dem Plexus Lumbalis oder aus dem Plexus sacralis betroffen ist. Durch Abnahme und Zunahme des Drucks auf die Wurzel ist der akute Schmerz sofort zu lindern oder zu provozieren. Die provozierende Haltung will man sofort wieder verlassen, ich mochte am Anfang nicht einmal meine Zähne im Stehen putzen.
Zur weiteren Untersuchung gehen wir mit dem Untersuchungsschema aus dem Kaltenborn Evjenth Konzept konform mit den Leitlinien.
Die neurologischen Zeichen, Kennmuskelabschwächung, Hypoeflexie und Sensibilitätsstörung im Dermatom sowie Nervenspannungstests geben deutliche Hinweise auf die Segmenthöhe und die betroffene Nervenwurzel.
Voraussetzung ist natürlich, dass der Arzt der Patientin zuhört und die genannten Test für den Bereich anwendet, der zum Schmerz passt. Ich musste leider die Erfahrung machen, dass die Orthopädin sich nach dem Motto oft ist oft, auf L5 und S1 gestürzt hat. Eine Wiederholung der Untersuchung durch meinen Kollegen mit OMT -Ausbildung deutete klar auf L3, was sich später im MRT bestätigte.
Die Leitlinien empfehlen das MRT, wenn keine Hinweise auf eine unterliegende Pathologie vorliegen, erst nach zwei Wochen, wenn keine Besserung eintritt. Theoretisch mag das richtig sein. Als Kassenpatient tut man gut daran, sich sofort um einen MRT-Termin zu kümmern, da die Wartezeit schnell zwei Wochen beträgt. Eine Bestätigung, dass es sich um einen BS- Vorfall handelt und nicht um eine Zerrung oder Blockade, vor allem wenn (noch) keine neurologischen Zeichen vorhanden sind, empfinde ich als sinnvoll, um eine geeignete Therapie einzuleiten.
Auch wenn die Leitlinien die Gabe von NSAR und Ko-Analgetika bei Nervenschmerzen vorsehen, erlebe ich in der Praxis, dass dies wenig oder nicht hilft. Auch aus eigener Erfahrung bin ich der Meinung, dass Kortisongabe besser hilft. Dies sehe ich auch von Ärzten in meinen beruflichen Umfeld vertreten. Die Leitlinien sehen hierfür keinen Anhaltspunkt, berufen sich aber dazu nur auf eine Studie. Aus persönlicher Erfahrung würde ich sagen, bei Nervenentzündung, weg mit Ibu und Konsorten! Dafür fünf Tage Kortison, dann fünf bis zehn Tage ausschleichen. Unterstützend werden Muskelrelaxantia empfohlen. Dies habe ich auch für einige Nächte als sehr wohltuend empfunden.
Als interventionelle Therapie wird eine epidurale Spritze mit Kortison und ein Anästetikum vorgeschlagen. Natürlich wird die Spritze unter dem Bildwanderer dem Landmark gestützten Verfahren vorgezogen. Landmark gestützte Verfahren steht für Palpation von knöchrigen Vorsprüngen, um zu bestimmen, wo die Spritze zu setzen ist. Für Kassenpatienten sieht es aber so aus, dass ein Arzt mit Kassenzulassung für Schmerztherapie die Behandlung mit Bildwanderer befürworten und verschreiben muss. Erst dann kann der behandelnde Orthopäde oder Neurochirurg, das Verfahren bei der Kasse abrechnen. Sonst ist es für den Patienten eine Eigenleistung. Da mehrere Spritzen nötig sein können, kann das schnell teuer werden. Ich habe auf das Können und die Palpationsfähigkeiten „meines“ Neurochirurgen gesetzt, mit Erfolg.
Die Leitlinien empfehlen auch Wärme, ich habe in den ersten Tage nur Kälte vertragen. Kälte wird in den Leitlinien nicht erwähnt, ich fand es sehr hilfreich.
Manuelle Therapie wird in den Leitlinien in der Akutphase empfohlen. Ich selber konnte das feststellen, was ich in meinem Berufsleben öfter gesehen habe: der Weg zum Physiotherapeuten und das Einnehmen von Positionen in der Behandlung, ist mit so viel Schmerzen verbunden, dass in der hochakuten Phase kein Gewinn durch Physiotherapie zu erkennen ist.
Manipulationen im betroffenen Segment werden einstimmig abgelehnt. Auf anderer Segmenthöhe ist es möglich. Bei mir hat mein Kollege L5 manipuliert der, wahrscheinlich durch die schmerzbedingte Verspannung, hypomobil war.
Zur Aktivität wird schnellstmöglich geraten. Ich kann das nur unterstützen, möchte aber doch zu Geduld raten. Nicht selten liest man in Artikeln, dass eine Ruhe von länger als fünf Tagen sich negativ auf den Verlauf auswirkt. Ich kann nur sagen, dass ich zwei Wochen nicht auf die Beine gekommen bin, trotz dieser ständigen Warnung im Hinterkopf. Aber wenn einerseits mit (medikamentöser) Behandlung versucht wird, den Nerv zu beruhigen, hielt ich es für kontraproduktiv, ihn anderseits durch erhöhten Druck zu ärgern. Ich war da einer Meinung mit „meinem“ Neurochirurgen. Nach zwei Wochen konnte ich einigermaßen aufrecht stehen und konnte ab dann meine Spaziergänge innerhalb der nächsten zwei Wochen auf mehrere Stunden ausweiten. Ich würde sagen, dass eine etwas längere Ruhezeit sich lohnen kann.
Übungen werden in den Leitlinien in der subakuten Phase empfohlen. Ich würde sagen, dass ein Übungsprogramm gestartet werden kann, sobald der Schmerz Aktivität zulässt. Hier sollte der ganze Körper trainiert werden. Die Intensität kann schmerzadaptiert gesteigert werden. Eigenmobilisation mit Slider habe ich als sehr wohltuend empfunden. Bei mir hat es sechs Wochen gedauert, bis ich mein übliches Fitnessprogramm wieder absolvieren konnte Um meine Laufkondition wider zu erlangen, habe ich drei Monate gebraucht, auch wenn ich meine Strecke schon nach zwei Monaten wieder laufen konnte.
Mit Fahrradfahren habe ich, wegen der Haltung, sechs Wochen pausiert. In die Sattelstütze habe ich einen Stoßdämpfer eingebaut, da meine täglichen Fahrten oft über Wurzelwerk gehen.
Mir hat mein eigenes Wissen sehr geholfen, das richtige Maß an Belastung zu finden. Dieses Wissen zu vermitteln, sehe ich als die wichtigste Aufgabe für der Physiotherapeuten. Den/die Patient:in über die physiologische Vorgänge und darüber aufklären, dass ein Bandscheibenvorfall ungefährlich ist. Ihr/Ihm gut zuhören und die Angst nehmen, nicht bagatellisieren aber vor allem nicht dramatisieren. Das vorherige Fitnesslevel bestimmen, sie/ihn ermutigen wieder aktiv zu werden, sich zu trauen sich zu belasten und sie/ihn ein- bis zweimal pro Woche über drei Monate begleiten im Alltag und im Sport. Auch da gehe ich mit den Leitlinien konform.
Die Leitlinien umfassen noch ein ganzes Paket an weiteren (nicht) Empfehlungen. Da es mein Ansatz, war meine eigene Therapie an den Leitlinien zu überprüfen, habe ich diese nicht hier aufgeführt. Sie sind aber im Link zu finden und lesenswert.
Ich wünsche euch viel Erfolg bei der Behandlung von Bandscheibenpatienten. Aus eigener Erfahrung kann ich sagen: Am Ende wird alles gut :).
Else