Um über Indikationen zum Dehnen in Sport und Physiotherapie zu sprechen, ist es notwendig, zu definieren, was unter dem Begriff Dehnen verstanden wird.
Es geht vorerst nicht darum, sinnvolle Dehnübungen zu überlegen, sondern zu begreifen, was mit Gewebe passiert, wenn wir versuchen es zu verlängern.
Um eine Längeveränderung zu erreichen, braucht es eine gewisse Zugkraft über eine gewisse Zeit. Die dann auftretenden Phänomene sind:
Creeping: Muskel, Sehne und Kollagen sind kein Gewebe von rein elastischer Art. Deswegen entsteht während der Einwirkung von Zugkräften eine plastische Verformung, die aber zeitnah nachlässt.
Stress Relaxation: Wird die Dehnung etwas länger gehalten, bringt das Gewebe weniger Widerstand gegen die Verformung auf. Es muss weniger Kraft aufgebracht werden um die Verformung aufrecht zu halten.
Hysterese: Nach einer längeren Dehnung kommt es zu einer Restdeformation in der Entspannungsphase nach der Dehnung. Wenn zeitnah keine weitere Dehnung erfolgt, verschwindet auch dieser Längegewinnn (Klein und Sommerfeld, Freiwald). Wenn länger gehaltene Dehnung wiederholt wird, kommt es zu einer erhöhten Proteinsynthese, so dass strukturelle Anpassungen entstehen (Freiwald u.a. 2010).
Diese Prinzipien wenden wir in der Manuelle Therapie nach Kaltenborn-Evjenth bei der Kapseldehnung und der therapeutischen Muskeldehnung an, um bei Hypomobilität die Beweglichkeit zu vergrößern.
Aber wie verhält es sich mit Dehnung außerhalb der Physiopraxis, z.B. beim Sport?
Viele Sportler sind der Meinung, dass Dehnen Verletzungen vorbeugt, die sportliche Leistung steigert und die Regeneration nach dem Sport fördert. Diese Meinung hat viel mit Überlieferung und subjektivem Empfinden zu tun. Sehen Sportwissenschaftler dies aber genauso?
Studiengestütztes Wissen dazu ist im Buch „Optimales Dehnen“ von Jürgen Freiwald (2013) zu finden. Er stellt fest, dass kaum Studien einen Beleg dafür liefern, dass Dehnung vor dem Sport Verletzungen vorbeugt. Freiwald weist aber auch darauf hin, dass bei großen Untersuchungen Mittelwerte gebildet werden, die einzelne Personen und Ihre Besonderheiten nicht berücksichtigen. Vor allem ist es wichtig zu sehen, über welche Verletzungen gesprochen wird, um zu beurteilen, ob Dehnung diese überhaupt hätte verhindern können.
Einige Studien bringen interessante Daten, um das Wissen über Dehnen im Sport zu erweitern.
Zu hohe und zu geringe Beweglichkeit sind ein Risikofaktor für Verletzungen (Marshall 2004). Die normale Wiederherstellung des Bewegungsausmaß ist ein Ziel der MT.
Langsames Laufen als Aufwärmung verbessert die Gelenkbeweglichkeit des OSG, ohne die Leistungsfähigkeit zu begrenzen und ist damit ein guter Einstieg in die Sportbelastung (Rosenbaum 2005).
Freiwald et al. stellten in einer Studie aus 2007 fest, dass die Längeveränderung des VKB nach einem Dehnungsprogramm der verschiedenen Beinmuskeln für jeweils 3 x 20 sec größer ist, als nach einem 90-minütigen Fußballspiel.
Eine Analyse von Freiwald aus 2006 zeigt, dass beim Fußball die Häufigkeit der Verletzungen am Ende der ersten und zweiten Halbzeit zunimmt.
Muskelzerrungen und -risse sind Verletzungen von denen man vermutet, dass man sie mit Dehnung vor dem Sport vermeiden kann. Es zeigt sich, dass es eher zu Längsrissen kommt und weniger zu Querrissen, Diese würde man eher bei verkürzten Muskeln erwarten.
Verschiedene Untersuchungen aus Handball und Fußball (May, Mandelbaum, Dvorak) zeigen einen Rückgang der Verletzungen, wenn Koordinationsschulung in das Training aufgenommen wird.
Leistungssteigerung durch kurzes Dehnen ist nur sinnvoll für Sportarten, bei denen ein großes Bewegungsausmaß benötigt wird, das aber wie oben beschrieben in extra Dehneinheiten erworben wurde.
Bei Sportarten, bei denen Schnellkraft und Sprungkraft benötigt wird, wirkt sich Dehnen vor dem Sport negativ auf die Leistung aus. Dies wurde in verschiedenen Messungen festgestellt. Untersuchen dazu sind im Buch von Freiwald zusammengefasst. Die oben beschriebene kurzzeitige plastische Verformung bietet hierfür eine Erklärung. Eine Studie von Nelson aus 2005 stellte fest, dass auch die Kraftausdauerleistung nach statischem Dehnen signifikant reduziert ist .
Auch nach dem Sport ist es weit verbreitet, noch ein paar statische Dehnungen durchzuführen. Der Grund der dafür angegeben wird, ist das Beheben des Kontraktionsrückstands. Sowohl Freiwald als auch M. Toigo in seinem Buch Muskelrevolution schreiben, dass es keinen Hinweis auf diese Kontraktionsrückstände gibt, auch nicht nach Krafttraining. Wenn der Muskel im Training nicht überbelastet wird, ist genügend Substrat vorhanden. Die erhöhte Durchblutung bringt Sauerstoff und Substrat, um die Muskelkontraktion aufzulösen. Durch Dehnung werden die Kapillaren komprimiert, die Durchblutung gedrosselt und dieser Prozess gestört. Auch hier ist lockeres Auslaufen oder ähnliches vorzuziehen.
Als Fazit kann man mitnehmen, dass für die Vermeidung von Verletzungen Koordinationstraining und lockeres Aufwärmen durch Laufen oder Ähnliches eine bessere Wirkung zu haben scheint, als kurzes Dehnen vor dem Sport. Die kurzzeitige Spannungsänderung des Gewebes nach dem Dehnen bietet keine gute Voraussetzung zur Kraftentwicklung. Zu berücksichtigen ist auch, dass die gedrosselte Durchblutung während der Dehnung eine ungünstige Situation schafft, um Substrat und Sauerstoff heranzuführen. Festzuhalten ist aber, dass sportspezifisch oder bei Personen mit einer Hypomobilität regelmäßige Dehneinheiten wie oben beschrieben notwendig sind.
Da das persönliche Empfinden beim Dehnung in der Meinungsbildung eine große Rolle spielt, würde ich keinen Freizeitsportler überreden, seinen liebgewonnenen Einstieg in die Sportstunde zu ändern. Wenn wir aber als Manualtherapeuten nach unserer Meinung gefragt werden, sollen wir versuchen, uns auf Fakten zu stützen und nicht auf unser eigenes subjektives Empfinden. Ich hoffe dieser Post liefert dazu ein paar Denkanstöße und Literaturhinweise.
Else