In 2021 hat die IFOMT ihr Framework for Examination of the cervical region aus 2012 erneuert.
Dieses Dokument ist ein Leitfaden für eine sichere Untersuchung und Behandlung der HWS in der Orthopädische Manuelle Therapie in Bezug auf das Erkennen von möglichen vaskulären Pathologien.
Eine große Angst des Manualtherapeuten besteht darin, durch eine Untersuchungstechnik, eine Mobilisation oder eine Manipulation eine Verletzung an den Gefäßen der HWS, insbesondere der Arterie Vertebralis (AV) oder der Arterie Carotis Interna (ACI) zu verursachen.
Das Problem ist, dass es zur Überprüfung dieser Gefäße keine Tests mit einer ausreichenden Aussagekraft zur Aufdeckung individueller Risiken gibt (Hutting et al, 2018 und 2020).
Die IFOMT empfiehlt, basierend auf der Publikation von Hutting et al., den gehaltenen Positionstest, bekannt unter der Arteria Vertebralistest nach de Kleyn Nieuwenhuyse wegzulassen. Im Leitfaden von 2012 war dieser Test noch aufgeführt.
Ein anderer Test wird dazu nicht empfohlen, sondern es wird ein sehr ausgiebiger clinical reasoning Prozess vorgeschlagen. In verschiedenen Schritten werden die Risiken für eine vaskuläre Pathologie ausgeschlossen oder aufgedeckt. Während dieses Prozesses soll die Option im Auge behalten werden, die Untersuchung abzubrechen und dem Patienten zu anderen Untersuchungen, wie Ultraschall, zu raten. Wenn alle Schritte mit ein negativem Ergebnis durchlaufen sind, kann damit gerechnet werden, dass der Manualtherapeut sicher behandeln kann.
Der wichtigste Schritt in diesem clinical reasoning Prozess ist die Anamnese zur Erfassung von Risikofaktoren und Erkennen von Zeichen und Symptomen.
Im Leitfaden wird unterschieden nach dissektiven und non dissektiven Pathologien. Die Risikofaktoren, Zeichen und Symptome werden nach Häufigkeit des Vorkommens aufgeführt.
Die Schwierigkeit in der Praxis ist, dass Symptome die ganz vorne auf der Liste aufgeführt werden, Kopfschmerz und Nackenschmerz sind. Gerade diese Symptome sehen wir als Therapeut sehr häufig in der Praxis und die Ursachen dafür können vielfältig und banal sein, im Vergleich zu den bedrohlichen vaskulären Pathologien.
Je länger die Liste der Symptome wird, umso deutlicher wird der Hinweis auf vaskuläre Pathologien. Wenn der Patient sagt, dass er unter drop attacks leidet, läuten hoffentlich bei allen Therapeuten die Alarmglocken. Aber wie ist es bei Ohrgeräuschen oder auch Sehstörungen? Schicke ich diese Patienten gleich weg, und wenn ja zur Doppleruntersuchung wo die Wartezeit gerne mal acht Wochen beträgt, oder doch eher zum HNO oder Augenarzt?
Der Leitfaden trägt sicher dazu bei, die Therapeuten für die vaskulären Pathologien zu sensibilisieren. Ziel ist es auch, den Therapeuten einen Weg vorzugeben, wie Sie ihre Entscheidung treffen sollen. Fortwährend sollen Risiken und Vorteile einer Behandlung abgewogen werden. Aber gerade in diesen Punkt bietet der Leitfaden keinen ausreichenden Halt, obwohl oder gerade weil er so umfangreich ist.
Wäre es nicht sinnvoll, den Arteria vertebralistest, aktiv und im Sitzen durchgeführt, beizubehalten; natürlich mit dem Hinweis auf seine Unvollkommenheit. Da wir wissen, dass der Test falsch negativ sein kann, bleibt Vorsicht geboten, zu der der Leitfaden anregt. Aber wenn der Test positiv ist, haben wir doch einen deutlichen Anhaltspunkt, die Untersuchung abzubrechen. Und wenn er falsch positiv war, so what, dann haben wir einmal zu viel einen Patienten zur Sonografie geschickt. Wenn wir uns nur auf die Anamnese, Zeichen und Symptome verlassen, werden sicher auch einmal zu viel Patienten weiterverwiesen.
Eine Sache möchte ich noch zu bedenken geben: Die IFOMT ist ein internationaler Verein und in verschiedenen Ländern haben die Manualtherapeuten ein unterschiedliches Ansehen, was sich auch in rechtlichen Angelegenheiten wiederspiegeln kann. Wie sind wir in Deutschland als Manualtherapeuten aufgestellt, wenn es zu einem gerichtlichen Verfahren kommen sollte und der Gutachter, der ein Arzt ist, den Arteria vertebralistest als ein anerkannten Test bewertet, den wir dann vielleicht nicht durchgeführt haben.
Jeder Therapeut sollte die Liste mit Symptome und Zeichen in der Praxis griffbereit haben. Ich werde aber in der Zukunft weiterhin zusätzlich den Arteria Vertebralistest Lehren und in der Praxis anwenden.
Else Germer