…das möchte Herr G.! Und er will endlich wieder gehen können. Er ist zutiefst genervt von seiner Unselbstständigkeit im täglichen Leben – beim Waschen, Anziehen, bei der Toilette. Seit über einem Jahr ist der 39jährige – 1,94 Meter große – und 140 Kilogramm schwere Mann Patient in unserer Klinik. Zuerst war er im Krankenhaus auf der Intensivstation, nun ist er in der Rehabilitation.
Die Liste auf dem Diagnoseblatt ist lang: Critical-Illness-Polyneuropathie nach Langzeitbeatmung und Sepsis. Lungenarterienembolie mit Reanimation, Verschluss der rechten Arteria femoralis superficialis, der linken Arteria axillaris, proximale Unterschenkelamputation links, hochgradige distal betonte Parese des linken Armes…und das ist längst nicht alles.
Das aktuelle Rehaziel lautet: Aufbau der Belastungstoleranz, Ausbau der Mobilisationszeiten im Rollstuhl, Stand- und Ganganbahnung.
Vor allem Letzteres macht mir Kopfzerbrechen. Der Stumpf ist noch offen, eine Prothesenversorgung noch nicht eingeleitet.
Herr G. sitzt im Leihrollstuhl vor mir, den Transfer auf die Therapieliege schafft er mit Rutschbrett und Hilfsperson. Mobilisation in den Stand ist das wichtigste Therapieziel.
In dem Zusammenhang zeigt sich der limitierende Befundstatus. Es sind Defizite folgender Strukturen mit Auswirkung auf die Aktivitäten Aufstehen und Stand.
Untere Extremität/ Kniegelenk links „gesundes“ Beines
ROM 0 -15 – 75°
Kraft (BMRC 0-5) Extensoren 2 Flexoren 3
Obere Extremität
Kraft (BMRC 0-5) Ellenbogengelenk links Extensoren 2 Flexoren 2
Hand- und Fingergelenke links 1
Anfang Juni 2021 sieht es so aus: Das Aufstehen ist nur aus erhöhter Position mit Unterstützung von zwei Therapeuten und mit Abstützen vorne auf einer hochgestellten Liege durchführbar. Ein Therapeut stabilisiert dabei passiv das linke „gesunde“ Knie beim aufstehen.
Die Nutzung des Stehtischs ist keine Option. Herr G. wiegt 140 Kilo – das schafft der Stehtisch zwar, doch wegen der eingeschränkten Beweglichkeit des Kniegelenks klappt es trotzdem nicht. Das war der Stand vor fünf Monaten.
Darauf folgen einige Wochen zähes Ringen um jeden Millimeter Beweglichkeit und Kraftzuwachs im Kniegelenk inklusive konsequenten Aufstehtrainings. Manuelle Mobilisationen und Muskelaufbautraining in der geschlossen Kette zeigen schließlich ihre Wirkung.
Mittlerweile ist Herr G. auch im hausinternen Prothesenteam angemeldet und vorgestellt worden. Das Team ist interdisziplinär aufgestellt: Ärztlicher Dienst, Orthopädietechnik, Physiotherapie. Alle Beteiligten sind in der Amputationsversorgung spezialisiert und besprechen gemeinsam mit dem Patienten die nächsten Schritte. In der ersten Phase geht es um den korrekten Sitz der Prothese, das Handling beim An- und Ausziehen der Prothese, sowie den Umgang mit dem Liner und dem Volumenstrumpf.
Die Anpassung und Übergabe der Interimsprothese Mitte Juli bringt schließlich den entscheidenden Fortschritt. Plötzlich steht Herr G. und überragt mit seinen 1 Meter 94 uns alle.
Die depressive Stimmung und der Ärger über den eigenen Zustand verbessern sich deutlich. Herr G. lernt die ersten Schritte am Unterarmrollator zu gehen. Für 80 Meter am Stück benötigt er nach weiteren vier Wochen 6 Minuten, dabei macht er drei kurze Stehpausen. Wir setzen das Gehtraining im Terrain auf ebenem Untergrund fort und üben schließlich Treppensteigen. Mit Geländer rechts, sukzessiv 20 Stufen hoch und runter. Das Handling mit Prothese und Liner lernt Herr G. trotz der paretischen Hand mit den Kolleg:innen der Ergotherapie und kann endlich selbständig den Transfer zur Toilette bewältigen.
Mitte Oktober 2021 wird Herr G. entlassen – in eine Einrichtung für betreutes Wohnen. Ein Pflegegrad ist beantragt. In die alte Wohnung kann er nicht mehr zurück, denn sie liegt in der zweiten Etage, ohne Fahrstuhl. Herr G. hat mittlerweile einen eigenen Rollstuhl, eine Unterschenkelprothese (Interimsprothese) und einen Unterarmrollator.
Langfristig möchte er wieder eine eigene Wohnung beziehen, in der ihn sein Sohn (6 Jahre) regelmäßig besuchen kann. Wie es beruflich weitergeht, steht in den Sternen. Vor der Erkrankung war er als Papiertechnologe in einem Betrieb tätig.
Fazit: im Hinblick auf die Gesamtsituation von Herrn G., die sich aus dem aktuellen Gesundheitszustand, der sozialen und letztlich auch beruflichen Perspektive zusammensetzt, ist die physiotherapeutische Zielsetzung nur ein kleines Puzzlestück. Der zeitliche Rahmen bis zum Erreichen des Ziels war ausgesprochen langwierig – auf Grund der Begleitfaktoren. Und doch waren die lokalen Maßnahmen zur Beseitigung der Funktionsdefizite am Knie in dem Moment entscheidend um den selbstständigen Aufstand, das sichere Stehen und Gehen einiger Schritte am Hilfsmittel zu erreichen. Herr G. war mit dem erreichten Ziel zufrieden, den Termin der Entlassung empfand er allerdings zu früh.
Das gesamte Rehateam wünscht Herrn G. alles Gute für die weiteren Schritte!
Weiterführende Literatur zum Thema:
Rehabilitation nach Majoramputation an der unteren Extremität 2019
abgerufen am 6.12.2021
Greitemann B. Rehabilitation bei Patienten mit Amputationen an der unteren Extremität. Rehabilitation (Stuttg) 2015; 54(06): 409-419
DOI: 10.1055/s-0035-1552631
Greitemann, B, Brückner L., Schäfer, M. Amputation und Prothesenversorgung Indikationstellung-operative Technik-Nachbehandlung-Funktionstraining. 4.Auflage Stuttgart: Thieme 2016
Digitale Therapeutenserie I Prothetik Untere Extremitäten I Ottobock
abgerufen am 23.10.2021